Donnerstag, April 06, 2006

Morissey: Alter Quälgeist ganz jung

Steven Patrick Morrissey besitzt eine der Wunderstimmen des Pop. Selten ist sie so gut in Szene gesetzt worden wie auf seinem neuen Album ...
(Von Christian Kortmann)

In dem schönen Fernsehfilm Klassentreffen gibt es einen jungen Mann Mitte 30, der sich daran erinnert, wie er sich 1987 beharrlich weigerte, Strangeways, Here We Come, das letzte Album von The Smiths anzuhören. Denn wie viele Fans der am innigsten verehrten Band der 1980er wollte er ihr Ende einfach nicht wahrhaben. Wer ahnte damals schon, dass der Smiths-Sänger Steven Patrick Morrissey auch solo immer wieder zu Hochform auflaufen würde? In den nun bald 20 Jahren seit Strangeways hat er zwar nicht konstant so großartige Songs ausgeworfen wie in der kompakten fünfjährigen Smiths-Ära, doch Alben wie Viva Hate (1988), Vauxhall And I (1994) und vor zwei Jahren You Are The Quarry dürfen bedenkenlos neben den Smiths einsortiert werden.

Die schwierigste Aufgabe des Solokünstlers Morrissey bestand über all die Jahre darin, seinen kongenialen Gitarristen und Komponisten Johnny Marr zu ersetzen. Denn ihre Zusammenarbeit machte die wenigen Alben der Smiths zu Kunstwerken: Morrissey spielt darauf die Rolle des Wunderkindes, das den Mund öffnet, und schon fallen Songs heraus, die nur noch musikalisch unterfüttert und arrangiert werden müssen. Morrissey ist sorrow’s native son, wie es in einem frühen Smiths-Song heißt, ein Sprachrohr elegischer Klagen und wütenden Schimpfens, über eigene Niederlagen und Unfähigkeiten wie gegen die Verlogenheit der Liebe, Fleischesser oder häuslichen Terror. Wobei das eigentliche Wunder Morrisseys darin besteht, dass diese Elegien unglaublich gut klingen und Hochstimmung verbreiten.

Anzeige

Auf dem neuen Album Ringleader Of The Tormentors übernimmt der Produzent Tony Visconti, der in der 1970ern mit David Bowie oder TRex arbeitete, die Rolle des Impresarios und inszeniert Morrisseys Kapricen stilsicher. So ließ er den Breitwand-Sound-Meister Ennio Morricone die Streicher für die große sentimentale Ballade Dear God, Please Help Me arrangieren. Andererseits wird gerockt wie lange nicht mehr: Beim Eröffnungslied I Will See You In Far Off Places oder bei I Just Want To See The Boy Happy kann man sich vorstellen, wie Morrissey es in diesen Wochen auf seiner Tournee durch Europa krachen lassen wird. Sein Prinzip, bestgelaunt die Schlechtigkeit der Welt zu besingen, überträgt sich auf die Arrangements. Im Song The Youngest Was The Most Loved, der von der Jugend eines späteren Mörders handelt, stellt ein optimistischer Kinderchor klar: »There is no such thing in life as normal«. Morrissey bleibt bei seinen vertrauten Themen, die Texte sind von einer tiefschwarzen Weltsicht geprägt. »It’s the same old SOS«, singt er einmal.

Besonders haben es ihm die familiären Katastrophen angetan, von denen man oft montags auf den »Vermischtes«-Seiten der Tageszeitungen liest. Schrecklich, wenn sie nackt vor einem stehen, aber wenn Morrissey sie vorträgt, singt man freudig mit und realisiert, was diese Stimme so zauberhaft macht: Sie ist elegisch-larmoyant und zugleich vital, gefühlvoll-weich und postpunkig-hart, kristallklar und doch vom dreckigen Leben geprägt. Um solches Poetisieren kommt man kaum herum, will man das Faszinosum Morrissey in Worte fassen. Ja, wenn es um Morrissey geht, legen auch viele in Testosteron badende Alpha-Männchen die Zurückhaltung gegenüber emotionalen Selbstdarstellern ab und bekennen sich zu uneingeschränkter Verehrung. Nirgendwo sonst in der männlichen Kultur ist so viel Ego-Pathos und Gefühlsduselei erlaubt. Sollte es sich auch nur um eine gepflegte Attitüde handeln, Morrissey kann glaubhaft singen: »To me you are / A work of art / And I’d give you my heart / That’s if I had one«. Der Albumtitel (»Rädelsführer der Peiniger«) ist also weniger als Anspielung auf aktuelle Folterskandale denn in dem Sinne zu verstehen, dass hier der Anführer der Selbstquäler zu seiner Gemeinde spricht: So großformatig, untermalt von Pauken, Geigen und Trompeten, würde man seinen Weltschmerz auch gern ausbreiten!

»Den nötigen Schmutz« habe er Morrisseys Musikverständnis hinzugefügt, sagt der Produzent Visconti. Man hört, wie viel Spaß es ihm und der Begleitband macht, für jemanden zu arbeiten, der Popmusik in ihrer höchsten Form verkörpert. Und auch der Meister fühlt sich in diesem Umfeld hörbar wohl. Aufgenommen wurde das Album in Rom, wo Morrissey seit gut einem Jahr wohnt. »I am walking through Rome / And there is no room to move / But the heart feels free«, singt er, und vielleicht hat der Einzelgänger und Misanthrop in der dicht bevölkerten, hitzigen Metropole genau die richtige Infrastruktur für seinen Schöpfergeist gefunden. Als flanierender Dichter bewegt er sich motivisch zwischen dem süßen Leben, das Falco in Junge Römer besang, und Rolf Dieter Brinkmanns Tagebuch-Essay Rom, Blicke, in dem die Ruinen der untergegangenen Antike als Klaviatur für eine radikale Zivilisationskritik dienen. »Piazza Cavour, what’s my life for?« heißt das bei Morrissey.

Das neue Album erinnert an Smiths-Zeiten, weil es nur potenzielle Hits enthält. Ringleader Of The Tormentors ist eine Best-of-Morrissey-Kompilation ohne alte Songs: Es klingt vertraut, doch zeigt es seine Stärken in neuem Licht. Zwischendurch scheint sogar Zuversicht auf, etwa im Song In The Future When All‘s Well: »Living longer than / I had intented / Something must have gone right?« Und mit dem letzten Lied lässt er, der oft damit kokettierte, dass sein Leben ruhig im nächsten Moment vorbei sein könnte, verlauten: At Last I Am Born. Manchesters 46-jähriges Pop-Wunderkind beliefert nicht mehr nur die Morrissey-Jünger mit neuem Stoff, sondern dürfte mit seinem am besten klingenden Album seit dem Ende der Smiths auch viele neue und jüngere Hörer gewinnen. Er gibt sich nicht länger dogmatisch verbittert, sondern sagt, dass es viele Gründe zu klagen gibt, dass aber im Grunde alles nicht so schlimm ist und das Alter manch freudige Überraschung parat hält: »I once thought that time / Accentuates despair / But now I don’t actually care«.

Quelle:
Die Zeit - Musik : Alter Quälgeist ganz jung

Keine Kommentare: