DIE ZEIT
Der Preis des Glücks
Junge Frauen bekommen überall zu hören: Kriegt Kinder, und zwar schnell! Über die Folgen werden sie getäuscht. Ein paar unbequeme Wahrheiten.
Von Iris Radisch
Heute dreiundzwanzig zu sein ist ziemlich schwierig. Ich bin doppelt so alt, auch das hat seine Nachteile, aber davon soll hier nicht die Rede sein. Wäre ich heute dreiundzwanzig, so irritierbar, so gutgläubig, wie wir damals waren – ich glaube, ich würde verrückt werden. An allem, erzählt man den jungen, gut ausgebildeten Frauen, sollen sie schuld sein. Daran, dass die Republik um ihren Alterswohlstand bangt und sich vor islamischer Überfremdung fürchtet, an den unschönen Dellen am demografischen Kegel, an den ungedeckten Kosten für Gehhilfen und Gebissen und überhaupt: am drohenden Kollaps des Westens.
Der Spiegel, das alte Zentralorgan für Fortschritt und Emanzipation, beklagt, dass die jungen kinderlosen Frauen die »Schöpfungsnotwendigkeit« missachteten. Der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, des Hausblatts für Industrie und Intelligenz, moniert, dass sie die »Urgewalt« der Natur nicht anerkennen. Es vergeht kein Tag, an dem nicht irgendein neuer älterer Herr die jungen Frauen an ihren Auftrag für Vaterland, Rentenkasse und Kulturnation erinnert und sie darüber in Kenntnis setzt, worin das menschliche Glück besteht: in der Familie.
Männchen, Weibchen, Nest und Nachwuchs, das ist der Gang der Welt seit Anbeginn. Das ist wie Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Wie jung sein, reif sein, alt sein, tot sein. Und an den Grundgesetzen der Natur kommt man ohne Strafe nicht vorbei. Die Natur rächt sich, nicht gleich, sondern in ihrem Rhythmus. Sie bestraft das Rauchen durch Krebs, das Plastik-Leben durch Depressionen und die verbissene Empfängnisverhütung eben mit Engpässen in der Rentenfinanzierung. Schon wahr. Die Moderne beißt sich selbst in den Schwanz. Am Ende geht sie noch unter. »Wir haben an einem Programm gefingert und damit einen biologischen Gau ausgelöst«, schreibt Frank Schirrmacher. Und wir: das sind wir Frauen.
Wir Vierzigjährigen, die wir herumgefingert und nichts Urgewaltiges hervorgebracht haben. Nun müssen die Jüngeren das ausbaden. Mir tut das leid. Alle dürfen in unserer Gesellschaft machen, was sie wollen, wenn sie nur können. Sie dürfen den Himmel damit verpesten, dass sie die dreihundertvierzigste Kleinwagenvariante auf den Markt drücken, sie dürfen, weil es ja nun mal nicht anders geht, Atommüll, das RTL-Nachtprogramm und die Bild-Zeitung herstellen und ewig so weiter auf der Fortschrittsleiter. Von ein paar biblischen Grundsätzlichkeiten abgesehen, darf in der freien Welt jeder die Würde des Lebens missachten, so gut es sich für ihn auszahlt. Nur die jungen Frauen dürfen das plötzlich nicht mehr. Sie werden von Leuten, die mit der Buchstabenfolge »Natur« bestenfalls eine Aufschrift auf Jogurtbechern verbinden, auf ihre natürliche Bestimmung hingewiesen. Da ist etwas faul.
Aber reden wir nicht weiter von den Herren, um die sich die Welt ja ohnehin überall dreht. Wichtiger sind die jungen Frauen, die offenbar die Stimme der Natur nicht hören. Da es ja unmöglich die Ängste und Katastrophenszenarien der Publizisten sein können, die bei jungen Frauen einen Kinderwunsch hervorrufen, frage ich mich, was man ihnen ernsthaft über das Kinderbekommen und Kinderhaben erzählen könnte. Darin kenne ich mich ein wenig aus.
Vor allem muss man sie auf eines hinweisen: Sie werden getäuscht. Die Gebärkampagnen der letzten Tage und Monate sind Propaganda. Die Appelle an die jungen und (weil die Lage so ernst ist) auch älteren Akademikerinnen, Kinder in die Welt zu setzen, erzählen viel über männliche Planspiele und wenig über weibliche Wirklichkeit. Sie übergehen ein paar grundsätzliche Wahrheiten, die jeder kennt und keiner aussprechen will.
Die erste und einfachste Wahrheit geht so: Eine Frau, die Kinder bekommt, muss ihr Leben ändern; ein Mann, der Kinder bekommt, nur einen Lebensabschnitt. Wenn überhaupt. Eine Frau, die ein Kind bekommen hat, ist, solange sie ihr Kind nicht umbringt, verklappt, wegsperrt oder entsorgt, eine Mutter, lebenslang. Ein Mann, der ein Kind bekommen hat, ist noch lange kein Vater. Das klingt absurd, ist aber millionenfache Praxis.
Die zweite Wahrheit heißt deswegen: Ein Vater ist ein Vater – aber nur solange es ihm Spaß macht. Wenn das Kind oder die Mutter ihm keinen Spaß mehr macht, kann er für sein Kind auch per Bankdauerauftrag sorgen. Das kann er so oft wiederholen, wie sein Konto es ihm erlaubt. Für eine Frau sind diese Wiederholungschancen sehr beschränkt, und in den seltensten Fällen gelingt es ihr, per Online-Banking für ihr Kind zu sorgen.
Die dritte Wahrheit ist deshalb die: Ein Mann, der ein Kind bekommen hat, kann sich weiter verwirklichen. Er kann Biobauer in Timbuktu werden und so viele neue Leben beginnen, wie er will.
Eine Frau kann das nicht mehr. Sie muss, wenn der Vater beschließt, seine Vaterschaft an den Nagel zu hängen und nur noch als Gelegenheitsjob oder hobbymäßig auszuüben, jeden Abend, den Gott gibt, um neun noch Der Mond ist aufgegangen singen und am nächsten Morgen von halb sieben an Tierbaby-Lotto spielen, ob sie Lust dazu hat oder nicht. Da sollten die jungen Frauen sich nicht das Blaue vom Himmel herunterlügen lassen. Die Sache ist seit ein paar tausend Jahren dieselbe: Elternschaft ist weiblich. Und Familienschiffbrüche sind seit ein paar Jahrzehnten Legion. Den meisten Frauen, die ich kenne, ist es passiert. Und sehr viele Männer, die mir begegnen, haben einen Bankdauerauftrag (und die ganz Schlimmen nicht einmal das). Darüber redet man nicht. Sollte man aber.
So viel zum Grundsätzlichen. Bleibt noch der Mythos von der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Um hier für Klarheit zu sorgen, muss man sich aus dem Hochsitz der Programmatik in den Sinkflug der Konkretion begeben. Da unten geht es nicht ganz so ordentlich zu wie in der Familienpolitik, wo die Renten mit den Kosten für Ganztagskindergarten und Ganztagsschule verrechnet werden. Gegen Ganztagskindergärten und Ganztagsschulen ist nichts zu sagen. Außer dass sie die Probleme einer ganztags berufstätigen Mutter nicht lösen. Hier kommen wir zu den kleineren, den heimtückischen Wahrheiten: Auch im Ganztagskindergarten muss ein Kind sauber gekleidet und möglichst mit einem Paar gleicher Socken bestrumpft erscheinen (wer hier lacht, der wird es noch bereuen), muss pünktlich wieder abgeholt, beköstigt und bespielt werden. Auch im Ganztagskindergarten wird permanent Geburtstag (Geschenke), Fasching (Kostüme) und Erntedank (Obstkörbchen) gefeiert, müssen Läuse bekämpft, Sterne gebastelt und Kuchen gebacken werden. Klingt eigentlich gut, ein bisschen wie ein knisternder, gemütvoller Schwarz-Weiß-Film, ein bisschen wie Bullerbü. Ist aber für eine Mutter, die zwischen achtzehn und neunzehn Uhr nach Hause kommt, Einkaufen geht, Kind ins Bett stopft, ein familiäres Waterloo.
Kein Teilnehmer der laufenden Gebär-Animationskampagne wagt anzumerken, was – Hauptwahrheit Nummer vier – jede voll berufstätige Mutter von kleinen Kindern weiß: Die angepriesene Vereinbarkeit von Beruf und Kindern ist eine Schimäre. Da gibt es nämlich nichts zu vereinbaren. Da gibt es nur etwas zu addieren. Und zwar Arbeit plus Arbeit. Und das Ergebnis ist: Erschöpfung. In der Zeitung steht: Altruismus. Aber man sollte der Zeitung, in der so etwas steht, nicht glauben.
Diesem Problem, so wird in der Regel argumentiert, lässt sich mit schlecht und schwarz bezahlten russischen oder polnischen Hilfskräften auf den Leib rücken. Das stimmt. Jeder, der sich das leisten kann, macht das. Der berühmten Vereinbarkeit nutzt das dennoch wenig. Denn Kinder brauchen (merkwürdig, dass das in den Kampagnen nicht erwähnt wird) mehr als sortierte Socken. Wir erinnern uns: Sie brauchen liebevolle Ansprache, Vorlesen, Singen, Erzählen, gemeinsame Erlebnisse. Man muss ihnen zuhören, ihre Tuschbilder loben, ihre Blockflötenkonzerte anhören, ihren ersten Handstand bewundern. Auch das können russische und polnische Hilfskräfte in Maßen leisten. Aber die einfache, schreckliche Wahrheit heißt dennoch: Den Kindern genügt die Bewunderung der russischen oder polnischen Hilfskräfte nicht. Sie wollen ihre Eltern.
Deswegen muss die berufstätige Mutter abends zwischen neunzehn und zwanzig Uhr auch noch vorlesen, singen, liebevolle Ansprachen halten, Blockflötenvorspiele abnehmen und Tuschbilder bewundern. Außerdem sollte sie mal einen Blick in die Schulhefte der Kinder werfen, ab und zu überprüfen, ob sie überhaupt lesen und schreiben können, sie sollte die Musikerziehung organisieren, die Freunde ihrer Kinder kennen lernen, die Kinder mal in einen Wald, ein Schwimmbad, ein Theater oder schlicht zum Zahnarzt führen. Alles in allem ein ziemliches Programm zwischen neunzehn und zwanzig Uhr abends.
Nun wird man einwenden, dass die vielen anderen, die heldenhaften Väter, die sich nicht spätestens nach der Geburt des zweiten Kindes in irgendein Timbuktu abgesetzt haben, der berufstätigen Mutter unter die Arme greifen können. In so einem märchenhaften Fall ist es natürlich möglich, dass die Mutter zwischen neunzehn und zwanzig Uhr aus ihrer Führungsposition nach Hause kommt und die Kinder bereits Geige gespielt, liebevolle Ansprache erhalten, Lieder gesungen, Handstand gemacht, Schwimmen gelernt, Bücher gelesen, den Waldspaziergang absolviert und für den nächsten Tag ein gebügeltes Häufchen frischer Wäsche neben ihrem Bettchen liegen haben. So etwas soll es geben. Setzt aber voraus, dass der Vater spätestens am frühen Nachmittag seine ihn dennoch vollumfänglich beglückende Arbeitsstelle verlassen und das skizzierte Betreuungsprogramm in Auszügen absolvieren konnte.
Mit anderen Worten: Beide Eltern von Kleinkindern können nicht voll berufstätig sein. Die Erziehung von Kleinkindern lässt sich (von Nordkorea, Frankreich und der DDR sehen wir hier mal ab) nicht outsourcen. Einer muss immer einen Preis zahlen. Wenn es nicht die Kinder sind, sind es die Eltern. Im Krisenfall, also im Normalfall, ist es immer…aber das hatten wir. Es ist ein merkwürdig gut gehütetes Geheimnis, das sich aber nicht aus der Welt schweigen lässt.
Dies sind im Groben die Basisinformationen, die man den jungen Frauen, die den biologischen Super-GAU verhindern müssen, nicht vorenthalten sollte. Ein paar Kleinigkeiten kommen noch hinzu. Auch hier hilft nur Ehrlichkeit. Kleine Wahrheit Nummer eins: Eltern verspießern. Sie haben, zumal die Familie, wie beschrieben, mit zwei vollen Gehältern nicht gesegnet ist, die Wahl zwischen einer kleinen Wohnung in der Innenstadt, in der sie sich nach dem dritten Kind die Windeln an den Kopf schmeißen, oder einem Häuschen im Grünen, wo sie sich dem Gespött der hippen Freunde und der Zeitgeist-Journaille aussetzt, die solche Leute als Pendlerpauschalisten verhöhnt.
Doch selbst wenn man die schickere Innenstadtvariante wählt, wird man, ohne es zu wollen – kleine Wahrheit zwei – bald zur spießigen Zicke, die sich beim Schuster über die Pin-ups und auf dem Spielplatz über die kackenden Hunde beschwert. Und im Kinderkino ruft man panisch nach dem Geschäftsführer, wenn die Vierjährigen, bevor Pippi Langstrumpf kommt, erst durch Marlboro Country reiten und Bacardi-Rum trinken müssen. Aber das sind nun wirklich schon Nickeligkeiten, eigentlich nicht der Rede wert.
Ein Wort zum Schluss: Die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist eine wunderbare Sache. Wir müssen sie verteidigen, auch wenn sie nicht funktioniert. Mit Kindern funktioniert sie nicht. Mit Kindern kommt die Moderne ins Stottern. Ohne Kinder allerdings auch. In diesem Paradox leben wir. Es soll sich trotzdem niemand vom Kinderbekommen abschrecken lassen. Dass Kinder glücklich machen, stand hier nicht zur Debatte. Ist auch schon oft genug beschrieben worden. Man sollte dem Glück nur offen in die Augen sehen. Dann sieht man, dass man es nicht umsonst bekommt.
Quelle
DIE ZEIT 16.03.2006 Nr.12
12/2006
Die Zeit - Leben : Der Preis des Glücks
Donnerstag, April 06, 2006
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